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Nimm dich in acht, Stranger!
von Uwe Helmut Grave
Diesmal nicht, Bert Stranger, diesmal nicht...
Glaubte der Windhund wirklich, ich fiele zweimal auf denselben miesen Trick herein?
Er unterschätzte mich gewaltig und beleidigte damit meine Intelligenz.
Was bildete er sich ein? Daß er der einzige gute Reporter auf diesem Planeten
sei? Da gab es noch andere. Beispielsweise mich – Tom Tucker, sechzig Jahre
alt, vierzig Jahre journalistische Berufserfahrung. Mir machte keiner so leicht
ein X für ein U vor.
Zugegeben, in letzter Zeit lief nicht alles wie gewünscht. Die Konkurrenz
wurde ständig größer, der Kampf um die Marktanteile härter.
Da kam mir das Angebot von Terra-Press, künftig als fester Mitarbeiter exklusiv
für eine neue, reißerisch aufgemachte Wochensendung tätig zu
werden, gerade recht. Ich mußte nur ein Stück berufliche Freiheit
aufgeben zu Gunsten finanzieller Sicherheit.
Das war vor zweieinhalb Jahren.
Von diesem Zeitpunkt an hörte ich mich allerorts nach Alltagserlebnissen
um, die es wert waren, daß man darüber berichtete. Es fiel mir nicht
sonderlich schwer, auf geeignete Storys zu stoßen – schrieb doch
das Leben bekanntlich die besten Geschichten.
Um meine Kurzreportagen für die breite Zuschauermasse interessant zu machen,
motzte ich sie auf Anweisung des Chefredakteurs jedesmal gehörig auf. Mancher
von mir interviewte Zeitgenosse dürfte sich bei Ausstrahlung der publikumswirksam
gestalteten Sendung selbst kaum wiedererkannt haben.
Kelso, mein australischer Kameramann, folgte mir auf Schritt und Tritt, damit
seiner vielseitigen Spezialkamera auch nichts entging. Wir "drei" wurden dicke
Freunde.
Erst wenn eine Sache vollständig zum Abschluß gebracht war, legte
ich dem Redakteur das fertige Ergebnis vor. Er entschied dann über den Zeitpunkt
der holographischen Ausstrahlung. Frische Sensationen wurden sofort gesendet,
weniger aktuelle Berichte landeten für einen begrenzten Zeitraum im "Konservenlager" – so
nannten wir scherzhaft das Archiv mit den zurückgestellten Aufnahmechips.
Mein Verdienst war zufriedenstellend, entsprach aber nicht meinen ursprünglichen
Erwartungen. Daher fing ich an – in Absprache mit Kelso – aufregende
Erlebnisse frei zu erfinden. Dazugehörige Interviews führte ich mit
bezahlten Laiendarstellern, die ich per Vertrag zum Schweigen verpflichtete.
Ein lukratives Geschäft, von dem alle profitierten. Die Zuschauer vor den
Bildschirmen freuten sich über die reißerischen Geschichten, der Sender über
die hohen Einschaltquoten und die gekauften Darsteller über ihre ansehnliche
Gage. Kelso und ich genossen den Erfolg, der sich allmählich auch auf unseren
Bankkonten bemerkbar machte.
Eines Tages kam uns Bert Stranger auf die Schliche. Weiß der Henker, wie
er das geschafft hatte! Wahrscheinlich hatte ihn seine legendäre Spürnase
auf unsere Fährte geführt – nicht umsonst galt er als der beste
Mann bei Terra-Press. Bert verfügte über Kontakte (sogar zur Regierung),
von denen unsereins nur träumen konnte.
Er machte mir schwere Vorwürfe und sprach von "sauberem Journalismus".
Am liebsten hätte ich laut losgelacht. Sauberer Journalismus? Den gab es
doch schon lange nicht mehr. Kaum noch ein Reporter fühlte sich der Wahrheit
und nichts als der reinen Wahrheit verpflichtet. Die Medien beziehungsweise die
Zuschauer und Leser dürsteten nach voyeuristisch aufgemachten Berichten,
und genau die lieferten wir ihnen – egal wie.
Stranger sah das anders – eine penible Einstellung, mit der er sich nicht
zum ersten Mal bei Kollegen unbeliebt machte. Er verlangte von Kelso und mir,
sämtliche gefälschten "Konserven" umgehend zurückzuziehen und
zukünftig nur noch wahre Meldungen zu verbreiten. Andernfalls würde
er uns auffliegen lassen.
Notgedrungen kamen wir seiner Aufforderung nach. Unter dem Vorwand, noch einige
Bearbeitungen vornehmen zu müssen, tauschten wir bereits fertiggestellte
getürkte Berichte nach und nach gegen wahre Storys aus. Eine Mordsarbeit,
die uns unnötige Zeit und eine Menge Geld kostete. Seinerzeit schwor ich,
mich bei der nächstbesten Gelegenheit an Bert Stranger zu rächen.
Diese Gelegenheit bot sich mir schneller als ich dachte.
Das Geschäftsgebäude von Terra-Press war ein riesiger Komplex. Nicht
alle Redaktionsräume waren frei zugänglich. Die in den oberen Etagen
gelegenen Räumlichkeiten durften ausschließlich von Mitarbeitern betreten
werden; für einige Zimmer benötigte man sogar eine Kodekarte.
Während Strangers Abwesenheit verschaffte ich mir unbemerkt Zutritt zu seinem
Büro. Es war wesentlich größer als die "Abstellkammer", mit der
Kelso und ich uns begnügen mußten, und weitaus besser eingerichtet.
Mich packte der Neid. Wozu benötigte jemand, der die meiste Zeit in der
Weltgeschichte unterwegs war, ein solches Luxusapartment?
Wie nicht anders zu erwarten, verweigerte mir Strangers Suprasensor ohne das
Paßwort den Zugang zu seinen Daten.
Ich suchte auf Berts Schreibtisch nach einem Hinweis. Diverse Notizen auf fliegenden
Zetteln brachten mich nicht weiter. Erst ein winziges Stück Papier, das
an der Unterseite eines blitzblanken Metallaschenbechers klebte, führte
zum gewünschten Erfolg.
Nur ein einziges, unfeines, in Versalien geschriebenes Wort stand auf dem versteckten
Notizzettel: IDIOT. Ich verwendete es umgehend als Paßwort...
... und der Suprasensor gab eines seiner Geheimnisse preis. Der Apparat gewährte
mir einen Blick auf Strangers persönlichen Terminkalender.
Eine Stunde später fuhren Kelso und ich in unserem gemeinsamen Dienstschweber
Richtung Baltimore. Bert Stranger hatte sich dort mit einem bekannten Politiker
verabredet, zwecks eines Interviews zu dessen bevorstehender Scheidung. Ein genauer
Gesprächstermin war noch nicht festgelegt worden, den wollte man demnächst
per Vipho abklären.
Das Delikate an der Sache: Jener Politiker betrieb seit Jahren einen öffentlichen,
fast fanatischen Feldzug gegen Unmoral, Unzucht und Ehebruch, wobei er ständig
sich selbst als nachahmenswertes Vorbild präsentierte. "Seht her, ich bin
ein fleißiger Familienvater mit strengen, aber gerechten Ansichten und
einer gefestigten Moral. Eheliche Treue ist für mich eins der obersten Gebote." Und
nun wollte ausgerechnet er seine Familie im Stich lassen und mit einer jüngeren
Geliebten zusammenziehen. Ein brisanter Stoff für jedes Klatschmagazin.
Vermutlich steckte sogar noch mehr dahinter. Mit einer profanen Liebesaffäre
hätte sich Stranger, der normalerweise von den Brennpunkten der Welt berichtete,
niemals befaßt. Hier ging es garantiert um Wichtigeres, möglicherweise
um den Verrat von Staatsgeheimnissen oder ähnlichem.
Denkbar war auch, daß Bert die Story für seine ehemalige Praktikantin
Claire alias KC aufgetan hatte und ihr das Interview überlassen wollte.
Um so besser, dann konnte ich beiden eins auswischen. Zwei Fliegen auf einen
Streich – der Überhebliche und die Vorlaute.
Kelso und ich trafen in Baltimore ein – und kehrten noch am selben Tag
unverrichteter Dinge in die Redaktion zurück.
Es war mir nicht gelungen, meinem verhaßten Reporterkollegen den Bericht
wegzuschnappen. Einfach deswegen, weil es nichts zu berichten gab. Eine Scheidung
stand überhaupt nicht zur Debatte.
Der betreffende Politiker hatte Kelso und mich von seinen Leibwächtern unsanft
aus seiner Villa werfen lassen und angekündigt, sich beim Chefredakteur
für meine unverschämten Unterstellungen zu beschweren.
Bert hatte wohl geahnt, daß ich über kurz oder lang versuchen würde,
es ihm heimzuzahlen. Deshalb hatte er mir vorsorglich eine Falle gestellt. IDIOT – damit
war ich gemeint.
Wie ein solcher kam ich mir auch vor, als ich beim Chefredakteur Abbitte leisten
mußte. Ich stammelte irgendwas wie "bedauerlicher Irrtum" und "peinlicher
Ausrutscher", mehr fiel mir dazu nicht ein. Was hätte ich auch sagen sollen?
Daß ich unbefugt ins Büro eines Kollegen eingedrungen war, um mich
an ihm für seine Überehrlichkeit zu rächen und statt dessen ein
Opfer seiner Hinterlist wurde?
Glücklicherweise hatte mich dieser inzwischen vier Wochen zurückliegende
Vorfall nicht gleich den Job gekostet.
Jetzt befand ich mich wieder in Bert Strangers Redaktionsbüro – und
erneut war ich auf seinem Schreibtisch fündig geworden.
Diesmal klebte ein Papierfetzen mit dem geänderten Paßwort unter einer
der Schreibtischschubladen. Offensichtlich hielt mich Stranger für einen "Vollidioten",
denn genau dieses Wort hatte er auf dem Stück Papier notiert.
Ich schaltete den Suprasensor erst gar nicht ein. Wenn Bert etwas zu verbergen
hatte, stand es garantiert nicht in seinem elektronischen Terminkalender, und
auch sonst würde ich auf seiner Festplatte vermutlich nichts Interessantes
entdecken. Dafür war er viel zu ausgebufft. Zweimal derselbe billige
Trick? Nicht mit mir! Diesmal nicht, Bert Stranger, diesmal nicht...
Jeder andere hätte jetzt vermutlich aufgegeben. Ich nicht. Hartnäckigkeit
war sozusagen mein zweiter Vorname. Unermüdlich suchte ich das Büro
nach einem Hinweis auf Strangers derzeitige Aktivitäten und nachfolgenden
Pläne ab.
Meine Mühe wurde belohnt. In einem schlecht gesicherten Aufbewahrungsbehälter
für Mikro-CDs (die ich allesamt unbeachtet ließ) stieß ich auf
ein kleines Geheimfach mit einem weiteren Datenträger. Den steckte ich kurzerhand
ein, zur näheren Begutachtung daheim. Ich hielt mich eh schon viel zu lange
hier auf. Auf dem kürzesten Weg verließ ich das Terra-Press-Gebäude.
*
Strangers geheime Unterlagen waren zwar verschlüsselt,
doch das bereitete mir nur minimale Schwierigkeiten. Nach mehreren Stunden
hatte ich den kompletten Text auf seinem Datenträger dechiffriert.
Im ersten Teil seiner Aufzeichnungen beschäftigte er sich mit dem durchschnittlichen
Lebensalter der Menschheit, welches Ende des vorigen Jahrhunderts gerade mal
bei 75 Jahren gelegen hatte. Diese Zahl schwankte allerdings erheblich, da
in der damaligen Statistik die relativ hohe Kindersterblichkeit mit einbezogen
worden war. Über Achtzigjährige waren durchaus keine Seltenheit,
und hier und da hatte man sogar den einen oder anderen Hundertjährigen
antreffen können.
Mittlerweile betrug der Lebensdurchschnitt – dank der rasanten Fortschritte
in der medizinischen Forschung – sage und schreibe 140 Jahre. Weil heutzutage
kaum noch Kinder starben, war diese statistische Angabe wesentlich präziser
und zuverlässiger als frühere Erhebungen. Hundertfünfzigjährige
gab es verhältnismäßig wenige. Hundertsechzigjährige hatten
Seltenheitswert. Und die immer mal wiederkehrenden, unbewiesenen Meldungen über
vereinzelte Hundertfünfundsiebziger im Kaukasus waren vermutlich nichts
weiter als die phantasiereiche Erfindung einiger Reporterkollegen von meinem
Schlag.
Was war bloß an diesem abgegriffenen Thema so spannend, daß sich
ein Journalist von Strangers Kaliber damit beschäftigte?
Des Rätsels Lösung steckte in einem amtlichen Schriftstück,
das mir als Kopie vorlag – ausgestellt von der Meldebehörde einer
kanadischen Ortschaft namens Edmoon.
Obwohl ich kaum glauben konnte, was ich da las, zweifelte ich nicht eine Sekunde
an der Echtheit des Dokuments. Stranger war kein Dummkopf und hatte das Amtspapier
sicherlich gründlich überprüft. Und überhaupt: Weshalb
hätte er es verstecken sollen, wenn es sich lediglich um eine Fälschung
handelte? Diesmal lag ich richtig, das spürte ich.
*
"Dreihundert Jahre?" Kelso schaute mich erstaunt an. "Das
ist unmöglich, so lange lebt kein Mensch."
"Mister Brian Holway schon", erwiderte ich. "Sein Geburtsdatum wurde amtlich
dokumentiert. Er erblickte nachweislich am 24. August 1758 das Licht der Welt.
Morgen feiert er seinen 300. Geburtstag."
"Erstaunlich! Die gesamte Weltpresse dürfte anwesend sein."
"Eben nicht. Aus Strangers Unterlagen geht hervor, daß Holway sein hohes
Alter bisher erfolgreich geheimgehalten hat. Nur seine engsten Angehörigen
wissen Bescheid und schirmen ihn vor der Öffentlichkeit ab. Damit man ihm
nicht auf die Schliche kommt, mußte er mehrmals umziehen. Sein jetziger,
wahrscheinlich letzter Wohnort ist Edmoon, ein kleiner Ort im Norden Kanadas.
Dort will er seine ihm noch verbliebenen Lebensjahre in Frieden verbringen. Theoretisch
könnte er jeden Tag den Löffel abgeben, daher ist Eile geboten."
Tags darauf saßen mein Kameramann und ich in einem Linienjett.
"Warum hat Stranger den Greis nicht längst aufgesucht, wenn dessen langes
Leben allmählich dem Ende zugeht?" fragte Kelso skeptisch.
Ich hob die Schultern. "Wahrscheinlich wollte er Holways runden Geburtstag
abwarten, um dem Interview einen besonderen Pfiff zu verleihen. Oder er hat
noch keine Zeit gefunden, sich darum zu kümmern. Du weißt doch,
was für ein Arbeitstier er ist."
"Das ist zwar ein Grund, aber kein Hindernis", meinte Kelso. "Bert hätte
seine Expraktikantin Claire nach Edmoon schicken können. Wäre ja nicht
das erste Mal, daß er ihr einen lukrativen Auftrag zuschanzt."
Ich schnaufte ärgerlich. Wenn es jemanden gab, den ich mindestens ebensosehr
haßte wie Bert Stranger, dann war es KC – Klatschtante Claire.
Ich weiß nicht mehr, wann genau sie zu Terra-Press gestoßen war.
Eines Tages hatte sie plötzlich auf der Bildfläche gestanden...
... und von da an war es mit ihrer journalistischen Karriere steil aufwärtsgegangen.
Keine Ahnung, wie sie das geschafft hatte. Einige Neider munkelten, sie hätte
sich gezielt bis zur Direktionsetage hochgeschlafen. Ich bezweifelte das – grottenhäßlich
wie dieses Frauenzimmer daherkam.
Stranger hatte sie für ein paar Monate unter seine Fittiche genommen und
ihr dann einen lukrativen Posten als Klatschkolumnistin verschafft. Seither
standen sie und ich in Konkurrenz zueinander. Zwar gehörte sie einer anderen
Redaktion an, verkaufte aber hin und wieder Beiträge an den leitenden
Redakteur des Magazins, für das ich tätig war. Ich hegte den Verdacht,
daß sie es war, die Bert seinerzeit auf meine gefälschten Berichte
und Interviews aufmerksam gemacht hatte.
Allein der Gedanke, daß Claire (kannte eigentlich irgendwer ihren Nachnamen?)
einen früheren Jett genommen haben könnte und vor mir bei Holway
eintreffen würde, jagte mir eine ganze Schwadron Gänseschauer über
den Rücken.
Am Flughafen mieteten Kelso und ich uns einen Schweber – und ab ging
es nach Edmoon.
Unterwegs machte Kelso Aufnahmen von der ländlichen Umgebung. Man wußte
nie, wann man solche Bilder mal gebrauchen konnte. Von romantischer Heimatidylle,
wie man sie aus Großvaters Fotoalbum kannte, war das alles weit entfernt.
So wie der Traktor einst das Pferd ersetzt hatte, hatte man auch ihn inzwischen
ausgetauscht – gegen programmierte Pflugmaschinen, die zur vielbesungenen
Märzenzeit unter Beaufsichtigung über die Äcker schwebten. Sogar
das Säen und Ernten wurde überwiegend von neuartigen Landwirtschaftsmaschinen
besorgt, und manch ein Großbauer leistete sich sogar Roboter – aufrechtgehende
Blechmänner von Wallis Industries, die für jedweden Arbeitseinsatz
immer beliebter wurden.
Augenblicklich stand das Korn in voller Blüte. Bis zum Einfahren war es
allerdings nicht mehr lange hin.
"Wir fackeln nicht lange", wies ich meinen australischen Kameramann an, als wir
vor dem Haus der Familie Holway eintrafen. "Ich gehe mit dem Mikrophon voran,
und du hältst unablässig die Kamera auf den Alten. Bis seine Angehörigen
kapieren, daß wir von der Presse sind, haben wir den Beitrag längst
im Kasten."
Überrumpelungstaktik gehörte zu meinen Spezialitäten, sie war
sozusagen das Geheimnis meines Erfolges.
Einem Sprichwort zufolge war das Glück stets auf der Seite der Tüchtigen.
Auf Kelso und mich traf das voll und ganz zu. Die Haustür des massiven
Bauernhauses stand sperrangelweit offen – und außer dem Greis war
gerade niemand daheim.
Er saß im gemütlich eingerichteten Wohnzimmer in einem bequemen
Sessel und war offenbar eingenickt.
"Mannomann, sieht der übel aus!" flüsterte Kelso mir zu. "Der reinste
Scheintote. Aus den vielen Falten in seinem Gesicht könnte man ein Wellblechdach
für meine Schwebergarage machen."
"Sei nicht so respektlos gegenüber einem Mann, der mühselig drei Jahrhunderte überstanden
hat", ermahnte ich meinen Mitarbeiter leise. "Ich bin schon gespannt, was er
uns alles zu erzählen hat."
"Jetzt steht es endgültig fest", sprach ich ins Mikrophon, ohne noch länger
Rücksicht auf den Schlaf des alten Mannes zu nehmen. "Der älteste Mensch
der Welt lebt nicht im Kaukasus, sondern in der kanadischen Region unseres Planeten.
Genauer gesagt, in einem verträumten, ländlichen Ort namens Edmoon,
im Norden Kanadas."
Der Greis erwachte, blinzelte zunächst und riß dann erschrocken
die Augen auf.
"Keine Angst, wir tun Ihnen nichts", beruhigte ich ihn mit einem breiten Lächeln
auf den Lippen. "Mein Freund und ich möchten Ihnen nur zu Ihrem dreihundertsten
Geburtstag gratulieren."
Brian Holway richtete seinen rechten Zeigefinger auf uns und versuchte, etwas
zu sagen. Seine Hand zitterte leicht. Offensichtlich wollte er uns hinausweisen,
hatte aber aufgrund seiner Betagtheit Mühe, sich verbal zu artikulieren.
"Aus diesem feierlichen Anlaß möchte ich Ihnen eine Frage stellen,
die unsere Zuschauer brennend interessiert", sagte ich rasch, noch bevor er seinen
Rausschmiß formulieren konnte. "Was war das eindrucksvollste Erlebnis in
Ihrem langen Leben, Herr Holway?«"
Der Greis hüstelte leise und sagte dann mit heiserer Stimme: "Im Jahre
2051..."
"Ich dachte eigentlich an ein weiter zurückliegendes Erlebnis", fuhr ich
ihm sogleich ins Wort. "2051 war für uns alle ein bedeutungsvolles Jahr.
Im Mai startete die legendäre Galaxis mit 5 000 Kolonisten ins All – und
zeitgleich brach über die Erde das Grauen herein."
"Aufgrund der Giant-Invasion..." krächzte Holway.
"Das müssen schreckliche Erinnerungen für Sie sein", unterbrach ich
ihn erneut. "Was unser Volk in jenen Tagen alles Furchtbares durchmachen mußte...
Ebendarum sollten wir uns glücklicheren Zeiten zuwenden. Sie wurden 1758
geboren. Als Sie zwanzig waren, schloß Benjamin Franklin für die amerikanischen
Freistaaten einen Bündnisvertrag mit Frankreich, dem im Folgejahr auch Spanien
beitrat. Sind Sie Franklin einmal begegnet?"
"Wolltest du nicht über glücklichere Zeiten reden?" raunte Kelso mir
zu. "Wenn mich meine geschichtlichen Kenntnisse nicht täuschen, begannen
im selben Jahr auch die Niederländer einen umfangreichen Handel mit Amerika – woraufhin
England Holland den Krieg erklärte."
"Still", zischte ich ihn an, denn ich hatte das Gefühl, Holway wollte etwas
dazu sagen.
"Nach der Invasion der Giants...", kam es kaum hörbar über seine Lippen.
"Wieso wollen Sie dauernd über die Giants mit uns sprechen?" fragte ich
ihn genervt. "Wenn Ihnen das achtzehnte Jahrhundert nicht behagt, wenden wir
uns dem neunzehnten zu. Wann und wie haben Sie von der Schlacht bei Waterloo
erfahren? Schließlich gab es damals noch keine Nachrichtensender. Dauerte
es sehr lange, bis sich derart brisante Meldungen verbreiteten?"
"Wegen der Giants...", versuchte es Brian Holway aufs neue.
Die Zeit drängte. Jeden Augenblick konnte jemand von seiner Familie hereinkommen
und uns zum Teufel jagen. Es mußte doch möglich sein, diesem Mann
wenigstens eine einzige Äußerung zu seiner historischen Vergangenheit
zu entlocken.
"1877 erfand Thomas Alva Edison die Konstruktion einer Sprechmaschine, den sogenannten
Phonographen", redete ich ihm mitten in den Satz hinein. "Noch Jahre später
bezeichneten ihn entrüstete Professoren als gemeinen Betrüger, der
lediglich Bauchrednerkünste vorführte. Sie, Herr Holway, konnten die
weitere Entwicklung dieser bedeutsamen Erfindung schrittweise mitverfolgen. Haben
Sie jede Neuerung auf diesem Gebiet mit Begeisterung aufgenommen, oder waren
Sie anfangs genauso skeptisch wie die Gelehrten? Welche Vinylplatten hörten
Sie eigentlich in Ihrer Jugend?"
In diesem Moment riß mir der Greis zornig das Mikrophon aus der Hand.
"Nach der Giant-Invasion standen die Bewohner von Edmoon vor dem Nichts", sprach
er mit bebender Stimme hinein. "Unsere Habseligkeiten waren teils verbrannt,
teils in alle Winde verstreut. Kaum jemand verfügte über persönliche
Papiere, alles mußte neu beantragt und erstellt werden. Im hiesigen Rathaus
herrschte ein ziemliches Chaos. Damals passierte es, daß man mich irrtümlicherweise
um einhundertvierzig Jahre älter gemacht hat."
Eine lange Rede für einen Hundertsechzigjährigen. Erschöpft
ließ er sich in den Sessel zurückfallen.
Scheinbar brauchte er jetzt etwas Entspannung, denn er streckte seine zittrige
Hand nach der Fernbedienung für den Suprasensor aus, die auf einem klobigen
Tisch lag. Ich reichte sie ihm herüber, fast automatisch, denn ich war
noch immer völlig perplex.
Kelso schaltete die Kamera ab und Holway den Suprasensor ein.
Das Tagesnachrichten-Hologramm wurde ausgestrahlt. Im Mittelpunkt stand ein
Live-Beitrag von Klatschtante Claire. Ein Sensationsbericht direkt vom Ort
des Geschehens. Joan Gipsy, Ren Dharks Exfreundin, beschuldigte den Commander
der Planeten, sie sitzengelassen zu haben, obwohl sie im sechsten Monat schwanger
sei. Demonstrativ hielt sie ihr spärlich bedecktes Bäuchlein in die
Kamera.
"Armer Kerl", murmelte Kelso. "Sie macht ihn öffentlich fertig – und
das ausgerechnet an seinem Geburtstag."
"Dhark hat heute ebenfalls Geburtstag?" entfuhr es mir – das hatte ich
total vergessen.
Brian Holway deutete auf das Hologramm. "Sie hättet ihr fragen sollen,
dann hättet ihr euch den Weg zu mir sparen können. Als sie vor sechs
Wochen hier war, habe ich ihr klipp und klar gesagt, wie alt ich wirklich bin."
"Wem?" fragte Kelso erstaunt. "Joan Gipsy?"
"Er meint KC", klärte ich ihn auf und fügte sarkastisch hinzu: "Unsere
allseits beliebte Klatschkolumnistin."
"Möchte nur wissen, wer ihr die falsch ausgestellten Dokumente zugespielt
hat", murmelte der alte Mann.
Das konnte ich ihm auch nicht sagen. Ich wußte nur, wer sie mir anschließend
zugespielt hatte. Es war Stranger tatsächlich gelungen, mich gleich zweimal
mit derselben billigen Masche in die Irre zu führen.
Nimm dich in acht, Stranger! ging es mir auf dem Rückflug durch den
Kopf. So schnell stecke ich nicht auf. Beim nächsten Mal bin ich es,
der die Nase vorn hat.
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