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Manfred Weinland
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thema Chip
Wie lebt es sich in einem Chip...?

von Manfred Weinland

Der Gedanke, wie viel Wissen, wie viel Erfahrung der Tod verschlingt, könnte einen melancholisch machen. Geniale Geister der Vergangenheit behalfen sich damit, indem sie ihre Gedanken zu Papier brachten - später ersetzten Bits und Bytes die Buchstaben. Es entstanden Datenbänke mit gewaltigen Kapazitäten.
Der Grundgedanke aber, die Grund angst blieb: Wie konnte man dem drohenden Wissens-Gau noch besser begegnen? Mußte man es bis in alle Zukunft hinnehmen, daß der Tod weiterhin nie verfaßte Schriften, nie zu Papier gebrachtes oder in Dateien gesammeltes Geistesgut einfach ausradierte? Welche genialen Gedanken mögen schon in ungezählten Gehirnen existiert haben und sind der Nachwelt nur nie bekannt geworden, weil der Tod schneller war als die Hand, die sie hätte aufschreiben und damit festhalten können?
Für die Terraner des dritten Jahrtausends ist dies immer noch ein ungelöstes Problem, dem sie zu begegnen versuchen, indem sie Philosophen und Wissenschaftler dazu motivieren, ihre Ideen möglichst umfassend schon zu Lebzeiten zu verbreiten und anderen zugänglich zu machen.
Die Galoaner, denen die Besatzung der POINT OF in der Galaxis Drakhon begegnet, haben indes eine höchst eigenwillige Lösung gefunden, dem Wissensschwund Paroli zu bieten - was allerdings auch eine Technik erfordert, die zumindest in diesem exotischen Zweig der terranischen (oder denken wir ruhig milchstraßenweit) um Jahrzehnte, wenn nicht gar um Jahrhunderte voraus ist.
Was die Galoaner tun, klingt simpel: Sie lassen ihre klügsten Köpfe einfach nicht sterben - und vermeiden so den Totalverlust ihrer Koryphäen auf unterschiedlichsten Wissensgebieten.
Der Aufwand, um die Seele eines sterbenden Galoaners vor dem Verlöschen oder Abdriften in unzugängliche Sphären zu bewahren, ist immens. Ein Normalbürger des galoanischen Netzwerks wird nie in den Genuß einer Seelenkonservierung kommen. Nur wenige Privilegierte schaffen es, sich für das Leben nach dem Tod zu qualifizieren. Ihre Bewußtseine bilden das Konglomerat der Seelen, das Nareidum, wohnhaft in einer Art Computer mit Superkapazität, der nüchtern betrachtet einer Kugel aus transparentem Material gleicht.
Es gibt jedoch Hinweise, daß das sichtbare Nareidum den Komplex, der dafür sorgt, daß die Galoaner-Seelen erhalten bleiben, nicht in seiner wahren Größe wiedergibt. Die Kugel, so scheint es, ist lediglich die Spitze des Eisbergs und zeigt nur den Bruchteil an eingesetzter Technik, eben den, der von Besuchern gesehen werden soll.
Vielleicht verbirgt sich der Rest in anderen Stockwerken des riesigen Turms. Oder tief in der Planetenrinde. Oder an einem noch ferneren, noch geheimeren Ort, an dem sich die Seelen vor Angriffen jedweder Art sicher fühlen dürfen.
Ist es deshalb vorstellbar, daß ein Galoaner wie Shodonn sich dazu hinreißen läßt, die Gefahr für sich noch zu erhöhen, indem er den gesicherten Hort des Nareidums verläßt und sich einer Hilfsexpedition anschließt?
Die technischen Voraussetzungen sind offenbar gegeben: Es erweist sich als machbar, eine Nareidums-Seele für einen überschaubaren Zeitraum aus dem Konglomerat zu lösen und in einen etwa faustgroßen Chip zu transferieren, der ihm im Kleinen fortan in ähnlicher Weise dient wie der Supercomputer auf Galoa im Großen.
Shodonn beweist offenbar höchste Risikobereitschaft, als er sich an Bord der H'LAYV begibt, die ins System der Owiden aufbricht, um den Terranern zu helfen.
Grundsätzlich aber darf die Frage erlaubt sein: Ist das "Leben" in einem Chip oder Supercomputer überhaupt lebenswert? Oder handelt Shodonn so vermeintlich risikofreudig, weil er in Wahrheit einfach lebens müde geworden ist?
Sicher können wir uns das Dasein eines Weisen nur rudimentär vorstellen. Dennoch gibt es einige Anhaltspunkte: Wir wissen zum Beispiel, daß deren Seelen via HyCyber in der Lage sind, sich in jeden beliebigen Knotenpunkt des riesigen galoanischen Einflußgebietes "einzuloggen". Grenzenlose Cyberwelten stehen den Nareidums-Angehörigen zur Verfügung - nicht nur zur Kurzweil, sondern auch als Grundlage, um das Netzwerk zu regieren.
Langeweile dürfte demnach kaum aufkommen. Gestehen wir den kasernierten Seelen dennoch eine gewisse Frustration zu, immerhin waren sie es lange gewöhnt, in einem sterblichen Körper zu wandeln, wurden nicht als reiner Geist geboren. Sie kennen also nicht nur die eklatanten Nachteile einer Hülle aus Fleisch und Blut, sondern auch deren Vorzüge.
Ein Weiser in einem Chip sieht und hört und riecht nicht mehr wie ein lebender Galoaner. Seine Wahrnehmung wurde kybernetischen Werkzeugen angeglichen. Dieser Verlust an Sinnlichkeit dürfte ein Problem sein. Nicht auszuschließen, daß es Weise gab, die damit auf Dauer nicht fertig wurden, vielleicht sogar dem Wahnsinn verfielen.
Was mag mit ihnen geschehen sein? Werden sie im Nareidum geduldet - oder ausgelagert, um die anderen Seelen nicht durch ihre wirren Gedanken zu stören oder gar "anzustecken"?
Und - gehört Shodonn zu diesen Weisen "auf der Kippe"? Hatte er seine "Gefangenschaft" satt und bot sich deshalb freiwillig an, die Expedition zu begleiten?
Zumindest sein Verhalten während der Auseinandersetzung mit den Nomaden im Bulk/Balk-System spricht gegen die These, daß er nicht mehr an seiner Form des Lebens hängt. Im Gegenteil ist seine Angst, dieses Leben zu verlieren, ganz offensichtlich riesengroß.
Aber ist es wirklich wahrscheinlich, daß sich das Nareidum darauf einläßt, einen der seinen so einfach aufs Spiel zu setzen? Shodonn könnte mit der H'LAYV vernichtet werden - das widerspräche der Maßgabe, die letztlich zur Entwicklung des Seelencomputers führte und die da lautet: Nie mehr unersetzliche Erfahrung, nie mehr unersetzlichen Geist verlorengehen lassen!
Denkbar ist, daß ein Volk, das in der Lage ist, die Seelen seiner Verstorbenen zu erhalten, auch Möglichkeiten besitzt, von ihnen eine Art Backup-Datei, eine Sicherheitskopie, anzulegen.
Was in letzter Konsequenz hieße, daß Shodonn aus seiner eigenen Sicht zwar in einem Gefecht tatsächlich sterben könnte - das Nareidum aber jederzeit einen vollwertigen Shodonn in der Reserve hätte und aus dem elektronischen Ärmel ziehen könnte.
Ein bizarrer Gedanke, drängt er doch die Frage auf: Wie lebt es sich wohl als Kopie einer unsterblichen Seele...?
 
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