Ren Dhark
     
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Fünf vor zwölf

von Uwe Helmut Grave

Erster TeilZweiter Teil


"Haarausfall sollen sie kriegen! Alle drei! Ihr Kopf soll jedes Haartransplantat abstoßen, und keine Perücke auf der Welt soll ihnen passen!"
"Alle drei?" wiederholte Chester McGraves, Erster Offizier auf der SPECTRAL, verwundert. "Henner Trawisheim, Ren Dhark… und wer noch?"
"Marschall Theodore Bulton, die elende Speckmade!" erwiderte Captain Roy Vegas, der die Sternschnuppe, wie die Raumschiffe der 50-Meter-Pantherklasse im allgemeinen genannt wurden, kommandierte. "Nachdem ich ihm berichtet hatte, was für ein Unding sich Dhark und sein Stellvertreter geleistet haben, hat er nur gelacht und gesagt: ›Dumm gelaufen, Captain. Wer den Teufel zum Tanz auffordert, darf sich nicht wundern, wenn er sich auf dem glattgebohnerten Höllenparkett die Beine bricht‹."
McGraves grinste. "Ich wußte gar nicht, daß der gute Ted so geistreich sein kann. Darf ich Ihnen einen Rat geben, Roy? Unser Flottenkommandeur ist für einen guten Spaß immer zu haben - aber reden Sie ihn niemals mit Theodore an, das kann er überhaupt nicht leiden. Ich verstehe gar nicht, warum Sie sich so sehr ärgern. Als erfahrener Mann von dreiundsiebzig Jahren müßten Sie eigentlich wissen, daß man im Leben nicht immer das bekommt, was man sich wünscht. Ich zum Beispiel wäre liebend gern Kapitän der SPECTRAL geworden, so wie mein älterer Bruder Chuck, der seit kurzem die Sternschnuppe LION befehligt. Doch erst stand Ihr Vorgänger meinem Aufstieg im Wege, und jetzt hat man mir Sie vor die Nase gesetzt. Beklage ich mich etwa?"
Als erfahrener Mann von dreiundsiebzig Jahren…
In einer Zeit, in der das menschliche Durchschnittsalter einhundertvierzig Jahre betrug, war man mit Dreiundsiebzig noch längst kein Greis. Roys Problem lag woanders.
Genaugenommen war der weißhaarige Mann, dessen Heißhunger auf Kirschkuchen inzwischen auf dem ganzen Schiff bekannt war, erst sechsundzwanzig Jahre jung - hatte er doch siebenundvierzig Jahre lang auf dem Mars in einer Nährlösung gelegen, bei Bewußtsein zwar, aber ohne etwas Brauchbares fürs Leben dazuzulernen.* Die Weiterentwicklung der Menschheit hatte sich ohne ihn vollzogen. Sogar die brutale Invasion der Giants, welche die Erde beinahe vollständig zerstört hätten, hatte er vollständig "verschlafen".
Im Gegensatz zu seinem I.O., dem vierzigjährigen Schotten McGraves. Er, der auf Roy wie eine Parodie auf die Hagergestalt "Don Quichote" wirkte, hatte damals Schreckliches erlebt und sprach nur ungern darüber. Vegas beneidete ihn fast für seine Erfahrungen.
Seit Roy Vegas vom Mars zurück war, befreit aus den Fängen eines verstandesbegabten Computers, der ihn als Gesprächspartner gegen die Langeweile mißbraucht hatte, versuchte er mit aller Macht, das Versäumte nachzuholen. Jeden Tag gelangte er zu neuen Erkenntnissen. Doch mit "echten" Siebzigjährigen konnte er einfach nicht mithalten, dafür mangelte es ihm an der nötigen Altersweisheit.
Beispielsweise wäre kein Mann im fortgeschrittenen Alter so leichtsinnig gewesen, Trawisheim, dem zweiten Mann im Staate, in aller Öffentlichkeit horrende Gehaltsnachforderungen sowie das Kommando über ein Raumschiff abzutrotzen. Derlei Vergünstigungen handelte man üblicherweise hinter verschlossenen Türen aus, wobei Vegas ein wenig mehr Bescheidenheit besser zu Gesicht gestanden hätte, angesichts der leeren Staatskassen. Dummerweise hatte er sich von seinem "jugendlichen Leichtsinn" dazu verleiten lassen, die Anwesenheit der Medien zu nutzen, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen…
Gegen die Gehaltsnachzahlungen (in staatlich vertretbaren Raten von einer Million pro Jahr) hatte selbst Ren Dhark nichts ausrichten können. Allerdings hatte es sich der Commander der Planeten nicht nehmen lassen, das passende Raumschiff für Vegas höchstpersönlich auszuwählen. Roy Vegas, der im Jahr 2011 als erster Mensch den Mars betreten hatte, hatte mit einem kampfstarken S-Kreuzer gerechnet - aber statt des ersehnten Ringraumers hatte er lediglich das Kommando über ein Kugelschiff der untersten Kategorie bekommen. Ein sogenannter Wegwerfraumer.
Das wurmte ihn.
Das - und der unverhohlene Spott seines Vorgesetzten Marschall Bulton, der ihn seither mit der SPECTRAL fortwährend auf Raumpatrouille schickte. Nicht gerade ein aufregender Job.
"Nutzen Sie die Zeit des ruhigen Patrouilleschiebens, um Ihre Mannschaft kennenzulernen", hatte ihm der Marschall geraten. "Am besten, Sie sehen anfangs über die eine oder andere Eigenheit hinweg. Die Jungs sind schwer in Ordnung, benehmen sich aber manchmal wie die Kinder. Ihr Umgangston ist mitunter etwas lax. Das Raumschiff nennen sie ›Seelenverkäufer‹, die Kommandozentrale ›Geschäftsetage‹ und den medizinischen Bereich ›Klempnerwerkstatt‹. Weil sie sich die Nummern der an Bord befindlichen Arbeitsroboter partout nicht merken können, gaben sie ihnen die Namen von amerikanischen Städten. Neue Besen kehren bekanntlich gut, Captain, dennoch sollten Sie nicht sofort alles ummodeln. Zeigen Sie Gelassenheit, die Mannschaft wird es Ihnen danken."
Roy Vegas nahm sich den Ratschlag zu Herzen und ließ an Bord der SPECTRAL langsam Dampf ab. Ab und zu kochte halt der Ärger noch in ihm hoch…
"Sie haben recht, Chester, ich muß lernen, mit den alltäglichen Niederlagen des Lebens besser fertig zu werden", räumte er gegenüber seinem Ersten ein. "Früher oder später kriege ich ein größeres Schiff, und falls nicht, soll es mir auch recht sein. In diesen Tagen gibt es weiß Gott Wichtigeres, das einem Sorgen bereitet."
Man schrieb den Januar 2059. Eine Expedition unter Führung von Ren Dhark war im Begriff, zum Super Black Hole im Milchstraßenzentrum aufzubrechen, um ein gewagtes Experiment durchzuführen. Gemeinsam mit den Rahim wollte man versuchen, die Masse des SBH zu reduzieren und auf diese Weise die schlimmste Bedrohung, der die Milchstraße je ausgesetzt war, in letzter Sekunde abzuwenden. Der Ausgang des gefahrvollen Unternehmens war ungewiß. Niemand konnte vorhersagen, ob Dhark und seine Begleiter jemals wieder in ihre Heimat zurückkehren würden.
In einem fort schickte Terra Hyperfunksprüche an alle erreichbaren Völker der Galaxis und informierte sie über das gefährliche Vorhaben. Eines mußte allen klar sein: Es gab nur diesen einzigen Versuch. Eine zweite Chance würde die Milchstraße mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr bekommen.
Vegas bezweifelte, daß die unablässigen Funksprüche überall empfangen wurden. Die gewohnten magnetischen Störungen schienen in letzter Zeit noch stärker geworden zu sein - als wüßte das SBH von der geplanten Maßnahme und würde sich noch einmal mit aller Macht dagegen aufbäumen.
Selbst auf der SPECTRAL, die sich in 30 000 Kilometern Entfernung vom Uranus aufhielt, trafen die Funkmeldungen nur bruchstückhaft ein. Zeitweise riß die Verbindung zu Terra sogar ganz ab. Ein schlechtes Omen für den Ausgang der Expedition?
In den terranischen Medien kamen in diesen Tagen auch Skeptiker und angstvolle Kritiker der waghalsigen Aktion ausreichend zu Wort. Manch einer hielt es für besser, gar nichts zu unternehmen und abzuwarten, bis sich das Problem vielleicht von allein erledigte.
Henner Trawisheim, weltweit der einzige Cyborg auf geistiger Basis, hatte einen Ausspruch von Bertolt Brecht dagegengehalten: "Wer kämpft, kann verlieren - wer nicht kämpft, hat schon verloren."
Den meisten Terranern war bewußt, daß es keinen anderen Ausweg mehr gab. Es war FÜNF VOR ZWÖLF - und somit allerhöchste Zeit, der bevorstehenden doppelgalaktischen Katastrophe entgegenzuwirken.
Derzeit befanden sich im Sol-System mehr Sternschnuppen als sonst auf Raumpatrouille. Ein sicheres Zeichen für die Nervosität unter den terranischen Politikern und Militärs. Man wollte hundertprozentig sichergehen, daß es nicht noch kurz vor dem Start der Rettungsflotte zu unliebsamen Zwischenfällen kam.
Auf einer der patrouillierenden Sternschnuppen flog sogar ein französischer Minister mit, laut eigenem Bekunden "aus tiefster Besorgnis über das Schicksal der Schöpfung".
"Nicht nur die Gruppe, die demnächst zum SBH aufbricht, leistet Großes", hatte er auf dem Raumflughafen von Alamo Gordo vor laufenden Kameras gesagt. "Auch die zahllosen ungenannten Raumfahrer, die das nähere Umfeld sichern und somit unser aller Leben schützen, verrichten harte Arbeit. Ich verspüre das dringende Bedürfnis, ihnen in dieser harten Zeit für ein paar Tage hilfreich zur Seite zu stehen."
Von Mithilfe konnte jedoch keine Rede sein. Meistens hielt sich Minister Giraud in seiner Kabine auf. Die Schiffsbesatzung betrachtete er als sein persönliches Dienstpersonal, und wenn er sich mal auf der Kommandobrücke sehen ließ, nervte er alle mit seiner unerträglichen Besserwisserei.
"Ausgerechnet die LION unter dem Kommando meines Bruders Chuck hat er sich für seinen Propagandafeldzug ausgewählt", erzählte Chester McGraves seinem Captain. "Giraud kandidiert in seinem Bezirk für die bevorstehenden Neuwahlen. Das und nichts anderes ist der wahre Grund für seine plötzliche Anteilnahme an der Arbeit auf den Patrouillenschiffen."
"Warum hat sich Ihr Bruder nicht von vornherein geweigert, den Minister mitzunehmen?" fragte Roy Vegas seinen Ersten.
"Keine Chance. Giraud hat gute Beziehungen. Ein Cousin von ihm wird dem engeren politischen Umfeld von Henner Trawisheim zugerechnet. Chuck hält sich augenblicklich in der Nähe des Saturn auf. Heute früh hatte ich kurz Funkkontakt mit ihm, und er schilderte mir seinen Kummer. Ich riet ihm, sich bei nächstbester Gelegenheit mit Marschall Bulton in Verbindung zu setzen und ihn zu bitten, auf Giraud einzuwirken, damit er sich auf ein anderes Schiff versetzen läßt."
Niemand sonst in der Zentrale beteiligte sich an der Unterhaltung. Allerdings hörten alle Anwesenden interessiert mit, während sie gleichzeitig aufmerksam ihre Kontrollen beobachteten.
Vegas wollte gerade den Befehl zu einem Positionswechsel geben, da wurden plötzlich Gefügeerschütterungen registriert. In unmittelbarer Nähe der SPECTRAL rematerialisierte ein Raumschiff.
Von einem Moment auf den anderen sah sich die Mannschaft einer zweiten Sternschnuppe gegenüber, in einer Entfernung von knapp eintausend Metern. Mit einem Schlag rückten Roys Ärger über Marschall Bultons Schadenfreude und das Gespräch über den nervtötenden französischen Minister weit in den Hintergrund. Alle Aufmerksamkeit richtete sich nun auf den transitierten Kugelraumer.
Wie ein düsterer Spuk stand er unbeweglich in der von fernen Lichtpunkten unterbrochenen Schwärze des Alls.
"Sieht fast genauso aus wie unser Seelenverkäufer", bemerkte einer der Brückenoffiziere leise.
"Schutzschirm einschalten", ordnete Vegas vorsichtshalber an und gab dem Funkoffizier Anweisung, Kontakt mit dem anderen Schiff aufzunehmen.
Die SPECTRAL erhielt keine Antwort.
"Vielleicht ist der Mannschaft etwas zugestoßen", vermutete McGraves und holte das Schiff auf dem Bildschirm näher heran. "Sehen Sie die leichte Beschädigung an der Außenhülle? Das Schiff könnte angegriffen worden sein und mußte sich per Nottransition retten."
"Eine Nottransition?" Roy schluckte. "Dann hätte es theoretisch mitten in uns hineintransitieren können."
McGraves ließ das Schiff abtasten.
"Das ist kein Flottenraumer", stellte er nachdenklich fest. "Dieses Schiff befand sich noch nie in terranischer Hand."
"Begreife ich nicht", gab Roy Vegas offen zu. "Meine Kenntnisse über die Giantinvasion beziehe ich zwar nur aus schriftlichen Unterlagen und Augenzeugenberichten, aber soweit mir bekannt ist, wurden die erbeuteten ehemaligen Giantschiffe samt und sonders auf menschliche Bedürfnisse umgerüstet und in den Dienst der TF gestellt. Übrig blieb eine unbekannte Zahl führungslos im Weltall treibender Schiffe, die nach und nach eingesammelt werden. Dies hier ist kein Treibgut."
"Richtig, sonst hätte es niemals transitieren können", bestätigte McGraves. "Sämtliche Funktionen sind in Betrieb. Aber es ist niemand an Bord, zumindest kein lebendes Wesen."
"Dann wird es entweder von Robotern gesteuert oder…"
"Oder?"
"Wie schon gesagt, Chester, meine Kenntnisse über die Giants sind nicht gerade umwerfend. Verfügten sie über Vorrichtungen, mit denen sie die Sensoren anderer Schiffe austricksen konnten?"

Weiter mit Teil 2

 
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